Wie kann Stiftungsarbeit in einer sich rasant verändernden Welt relevant bleiben und größtmögliche gesellschaftliche Wirkung erzielen? Ein Interview mit Dr. Nina Smidt und Klaus Grünfelder über die angepasste Strategie der Siemens Stiftung und darüber, warum gemeinsames Lernen und Gestalten dabei entscheidend sind.

Frau Dr. Smidt, Sie verantworten als Geschäftsführende Vorständin und Sprecherin des Vorstands die inhaltliche und operative Ausrichtung der Siemens Stiftung. Gemeinsam mit Ihrem Team und dem Stiftungsrat haben Sie in den letzten zwei Jahren die strategische Ausrichtung der Organisation reflektiert. Wo stehen Sie gerade?

Dr. Smidt: Wir haben einen intensiven und kollaborativen Prozess hinter uns, der zudem genau in die Corona-Pandemie fiel. Was diese Pandemie für Gesellschaften auf der ganzen Welt verändern sollte, konnte man anfangs nur erahnen. Inzwischen hat sich die Beschreibung „VUCA“ für eine volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Welt im Diskurs etabliert. Ob Klimakrise, Digitalisierung oder KI, wir erleben immer schnellere und tiefgreifende Veränderungen.

»Ziel war ‚Evolution‘ mit größtmöglichem Nutzen für die Gesellschaft.«

Wenn wir also als Stiftung Perspektiven in Bezug auf globale gesellschaftliche Herausforderungen aufzeigen wollen, müssen wir unsere Aktivitäten immer wieder kritisch hinterfragen und ausrichten. Ziel unseres Strategieprozesses war somit „Evolution“, also die Weiterentwicklung unseres Profils mit größtmöglichem Nutzen für die Gesellschaft.

Im Fokus stehen nun drei zentrale Themenfelder: „Gesicherte Grundversorgung“, „Vernetzte Gesellschaften“ und „Klima & Nachhaltigkeit“. Immer mit dem Ziel, nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung zu fördern.

Gesicherte
Grundversorgung

Gemeinsam
für nachhaltige gesellschaft­liche Entwicklung​
stiftung-mission-vernetztegesellschaft
Vernetzte
Gesellschaften
Klima &
Nachhaltigkeit
stiftung-mission-klima
Gemeinsam
für nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung
stiftung-mission-grundversorgung
stiftung-mission-vernetztegesellschaft
stiftung-mission-klima

»Kooperation und Ko-Konstruktion sind entscheidend für nachhaltige positive Transformation.«

Herr Grünfelder, Sie verantworten in der Stiftung die Bereiche Finanzen, Controlling und Organisation. Warum genau diese drei Themen?

Grünfelder: Mit dem gesamten Stiftungsteam haben wir analysiert, in welchen Bereichen wir mit unseren Kompetenzen aus Bildung, Sozialunternehmertum und Kunst & Kultur sowie unseren finanziellen Mitteln derzeit die wirksamsten Impulse für eine lebenswerte Zukunft geben können. Und wo Synergien im Team und in unserem Netzwerk entstehen können.

Welche Synergien meinen Sie genau?

Dr. Smidt: Unser Leitprinzip ist „Gemeinsam für nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung“. Damit meinen wir, dass Kooperation und Ko-Konstruktion entscheidend sind für nachhaltige positive Transformation. Das gilt für uns als Organisation und für unsere Zusammenarbeit mit Partner*innen in Europa, Afrika und Lateinamerika.

Grünfelder: Als Stiftungsteam konzentrieren wir uns gemeinsam auf drei Themenfelder. Die Zusammenarbeit und auch die Wirkungslogik unserer Arbeit verändern sich dadurch. Gleichzeitig sehen wir in sektorübergreifenden Allianzen inhaltlich und finanziell große Chancen.

»Es geht um eine ‚Kultur der Digitalität‘, die Realitäten digitaler und analoger Welten miteinander verknüpft.«

Dieser Netzwerkgedanke klingt ebenfalls im Themenfeld „Vernetzte Gesellschaften“ an. Geht es dabei auch um Digitalisierung?

Dr. Smidt: Es geht um eine „Kultur der Digitalität“, die Realitäten digitaler und analoger Welten sinnvoll miteinander verknüpft. Primär geht es um Räume für gegenseitiges Lernen und Wissenstransfer, Chancengerechtigkeit und soziale Teilhabe; beispielsweise über digitale Lehr- und Lernplattformen, die Materialien kosten- und lizenzfrei als Open Educational Resources bereitstellen.

Digitale Lösungen spielen dabei eine große Rolle, gerade für Dialog und Partizipation. Zusätzlich sind Initiativen wie unser MINT-Netzwerk Red STEM Latinoamérica, die Musikplattform Music In Africa oder die offene Kunstschule LA ESCUELA___, die Akteur*innen ganzer Kontinente verbinden, deshalb so erfolgreich, weil es immer wieder auch Gelegenheiten gibt, an einem Ort zusammenzukommen, Neues zu denken und gemeinsam nachhaltig weiterzuentwickeln.

Nachhaltigkeit ist auch Teil Ihres Themenfeldes „Klima & Nachhaltigkeit“.

Dr. Smidt: Dieses Thema hat insbesondere in den letzten Jahren an Brisanz gewonnen. Immer mehr Menschen, Unternehmen und Regierungen erkennen, wie wichtig Nachhaltigkeit für Umweltschutz, den Umgang mit sozialen Herausforderungen und verantwortungsvolles Wirtschaften ist.

Einen wichtigen Hebel sehen wir in der Klimawandelbildung. Also wie kann man Menschen frühzeitig daran heranführen, Nachhaltigkeit zu leben – aber auch darauf vorbereiten, mit veränderten Klimabedingungen umzugehen. MINT-Bildung, verbunden mit den „21st Century Skills“, birgt hier enormes Potenzial. Hier sind wir bereits mit einigen Initiativen aktiv, unter anderem als langjährige Partnerin des Office for Climate Education.

Grünfelder: Gerade unsere Zusammenarbeit mit Sozialunternehmen ermöglicht es, konkrete Lösungen zu erproben, zu implementieren und damit Klimaschutz mit nachhaltigem Wirtschaften in einem Geschäftsmodell zu verbinden. In Subsahara-Afrika arbeiten wir zum Beispiel an Ökosystemen für Elektromobilität und nachhaltige Energieversorgung.

Dr. Smidt: Das Thema Klimaschutz ist so groß, dass es die Anstrengungen aller gesellschaftlichen Akteur*innen erfordert. Unser Schwerpunkt liegt darauf, das Potenzial, das in MINT-Bildung und -Technologien liegt, produktiv nutzbar zu machen und durch kreative Ansätze Impulse zu geben für lokale Lösungswege. Oftmals im Verbund mit großen Partner*innen wie der Europäischen Kommission, dem UN Environment Programme oder dem Stiftungsnetzwerk F20.

»Unsere Projekte dienen oftmals als ‚Innovation Hub‘.«

Welchen Beitrag kann die Siemens Stiftung in solchen Allianzen leisten?

Dr. Smidt: Wir sind eine der wenigen Stiftungen, die international auf drei Kontinenten und gleichzeitig lokal verankert arbeitet. Unsere operativen Projekte dienen dabei oftmals als „Innovation Hub“. Im kleinen Rahmen testen wir innovative Ansätze, die dann zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten für weitere Partner*innen und Weiterentwicklung.

Grünfelder: WeTu, unser Sozialunternehmen in Kenia, ist ein gutes Beispiel: 2019 startete es mit unserer Gründungs- und Wachstumsfinanzierung mit sechs Kiosken für Wasser und Energie am Viktoriasee. Heute erreicht das Unternehmen mehr als 20.000 Menschen an zwölf Standorten und beschäftigt direkt 50 lokale Vollzeitmitarbeiter*innen und etwa noch einmal so viele indirekt über lokale Partnerorganisationen. WeTu dient auch als lokaler „Innovation Hub”. In seinem Umfeld entstehen in Zusammenarbeit mit lokalen Start-ups zahlreiche innovative Lösungen, beispielsweise für E-Mobility oder Circular Economy. Ferner ist WeTu einer von 30 internationalen Partner*innen und dient als „Demonstration Site“ des durch die EU geförderten Smart Energy Solutions For Africa (SESA) Projekts. Es werden dort innovative Photovoltaik- und Energiespeichersysteme und Möglichkeiten für ländlichen Internetzugang getestet.

Dr. Smidt: Wir starten mit unseren Initiativen immer an spezifischen lokalen Herausforderungen. STEM Education for Innovation zum Beispiel brachte zunächst als Pandemie-Nothilfe Bildungsakteur*innen aus ganz Lateinamerika zusammen, um hochwertige digitale Lehr- und Lernmaterialien zu entwickeln. Innerhalb weniger Jahre wurde diese Initiative zum festen Bestandteil unserer Netzwerkarbeit in Lateinamerika und liefert wichtige Impulse für die langfristige Transformation des Bildungssystems. Inzwischen arbeiten 180 Partner*innen aus 13 Ländern zusammen, um MINT-Bildung in der Region voranzubringen.

Erfahren Sie,
wie wir als Stiftung gemeinsam mit unseren Partner*innen grenzüberschreitendes Lernen fördern.
interview-ninaklaus-kultur

»Nachhaltigkeit bedeutet für uns genauso Diversity, Equity and Inclusion.«

Ist Nachhaltigkeit ein Thema nur für die Projektarbeit oder auch für die gesamte Organisation?

Grünfelder: Nachhaltigkeit müssen wir alle ganzheitlich denken. Mit einer oder einem eigenen Sustainability Manager*in gestalten wir unsere Nachhaltigkeitsstrategie im kommenden Geschäftsjahr systematisch.

Dr. Smidt: Nachhaltigkeit bedeutet für uns genauso Diversity, Equity and Inclusion – Themen, die den gesamten Stiftungssektor beschäftigen. Insbesondere die Förderung von Frauen als „Change Makerinnen“ in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ist uns ein Anliegen.

Zuletzt das Thema „Gesicherte Grundversorgung“: Dieses verfolgt das Team der Siemens Stiftung ja bereits seit Stiftungsgründung.

Dr. Smidt: Ja, denn dieses Thema ist relevanter denn je. Die Schere zwischen Arm und Reich wächst. Staatliche Versorgungssysteme funktionieren in manchen Regionen immer noch nicht ausreichend. Mit unserem Engagement stärken wir Menschen und Organisationen, die Veränderung bewegen.

Wir möchten insbesondere lokale Sozialunternehmen in benachteiligten Regionen mit ihren Lösungen unterstützen. Sie sind es, die Entwicklung langfristig und eigenverantwortlich vorantreiben. Wir begleiten sie auf ihrem Weg mit gezielten Angeboten für Finanzierung, Learning und Development. Schwerpunkte sind dabei Nachhaltige Energie, E-Mobilität sowie Wasser & Hygiene.

Weiterhin ist Bildung essenziell als Grundlage für Veränderung. Bei AccessSTEM erhalten beispielsweise Schulen in Ghana, die bislang keinen Internetzugang hatten, durch die Kooperation mit dem Sozialunternehmen BLUETOWN erstmals Zugang zu hochwertigen digitalen Bildungsressourcen.

»Das neue Stadtviertel wird zu einem kreativen Experimentier­feld für internationale MINT-Bildungs­innovationen.«

Worauf dürfen wir in den kommenden Monaten gespannt sein?

Dr. Smidt: Ein Projekt, das gerade enorm wächst, ist unser MINT-Hub in Berlin. Das neue Stadtviertel Siemensstadt Square wird zu einem kreativen Experimentierfeld für internationale MINT-Bildungsinnovationen. Design-Thinking-Workshops, Make@thons für Schüler*innen und ein Klassenzimmer der Zukunft eröffnen neue Erfahrungsräume für die Bildung der Zukunft.

Wir wollen Kindern und Jugendlichen mit guter MINT-Bildung wichtige Zukunftskompetenzen vermitteln. Gerade über Fachgrenzen hinausgedachte MINT-Fächer können sie darauf vorbereiten, Herausforderungen in einer volatilen, unsicheren, komplexen und digital geprägten Welt zu lösen. MINTplus nennen wir diesen Ansatz.

»Wir geben Impulse und bekommen Impulse. Dadurch bleibt unsere Arbeit in Bewegung.«

Wo sehen Sie die Siemens Stiftung in 10 Jahren?

Dr. Smidt: Offen gesprochen: Wir wissen es nicht. Unsere Welt verändert sich so schnell, dass auch wir uns weiter verändern werden. Gerade im Bereich Digitalisierung werden wir noch enorme Disruptionen erleben. Entwicklungen aus Augmented Reality und KI werden unser Zusammenleben und den gesellschaftlichen Diskurs verändern. Hinzu kommen globale politische und gesellschaftliche Herausforderungen sowie die Erderwärmung. Unsere Strategie haben wir für die nächsten drei Jahre formuliert und setzen sie entsprechend um.

Wir geben und bekommen Impulse. Dadurch bleibt unsere Arbeit in Bewegung. Jedoch immer mit Blick darauf, Menschen zu inspirieren, neue Ideen auszuprobieren, gemeinsam zu lernen und Gesellschaft verantwortungsvoll mitzugestalten.