»Kreative Prozesse müssen überall integriert werden, damit junge Menschen ihr Potenzial entfalten können.«

Christine Niewöhner, Projektleiterin Design Thinking

Passen Design Thinking und MINT zusammen?

Erstmals soll die Methode Design Thinking systematisch mit MINT-Fächern verbunden werden. Ein Ansatz zur Kreativitätsförderung trifft auf naturwissenschaftlich-technische Fächer. Kann das gelingen? Die Kulturwirtin Christine Niewöhner verantwortet im Arbeitsgebiet Bildung der Siemens Stiftung das Pilotprojekt „Design Thinking in MINT“. Sie kehrt gerade von dem Kick-Off-Workshop für Pädagoginnen und Pädagogen in Südafrika zurück. Und glaubt: Ja, es kann ganz wunderbar funktionieren. Hier berichtet sie von ihren Erfahrungen.

Frau Niewöhner, was genau ist Design Thinking?

Es ist eine strukturierte und kreative Methode zur Lösung komplexer Herausforderungen und gleichzeitig eine Denkkultur. Design Thinking kommt ursprünglich aus der Arbeitswelt von Designern, in der immer der Nutzer im Mittelpunkt steht. Entwickelt von der Design-Agentur IDEO in den 90er Jahren, basiert sie stets auf drei Elementen: multidisziplinären Teams, einem variablen Raum und dem eigentlichen Design-Thinking-Prozess. In diesem Prozess lernen Schülerinnen und Schüler durch Empathie und Perspektivwechsel für Fragestellungen Ideen und Lösungsansätze zu entwickeln, die sie in Prototypen sichtbar, anfassbar und bewertbar machen. Sie arbeiten in Teams und über Grenzen von Unterrichtsfächern hinweg.

Welcher Gedanke steckt hinter der Fokussierung auf diese drei Elemente?

Durch multidisziplinäre Teams wird der eigene Gedankenraum erweitert, die einzelnen Teilnehmenden bewegen sich aus ihren Komfortzonen heraus und wenden sich anderen Menschen, deren Hintergründen und Sichtweisen zu. Dies wird durch variable Räumlichkeiten unterstützt: flexibles Mobiliar fördert Bewegung, Aktivität und freie Entfaltung von Ideen. Die Räume enthalten für die Phase des Prototyping unterschiedlichste Materialien wie Papier, Lego, Stoffe, Kleber, Knete, Spielzeug, Zeitschriften…

Erklären Sie Design Thinking in MINT doch bitte einmal konkret an einem Beispiel…

In Südafrika führten wir Ende Februar 2019 unseren ersten Pilot-Workshop mit 32 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, darunter Lehrkräften und Bildungsexperten aus Südafrika, Kenia, Deutschland und Lateinamerika, durch, in dem der gesamte Prozess durchlaufen wurde. Da ich selbst Teilnehmerin war, erzähle ich gerne, was ich in meinem Team erlebt habe. Die Tage haben mir regelrecht die Augen darüber geöffnet, wie ich Herausforderungen, zu denen ich zunächst einmal keinen persönlichen Bezug habe, schrittweise lösen kann.

Wie lautete denn das zu lösende Problem?

Die Gruppe hatte sich entschieden, das zweite der 17 UN Sustainable Development Goals – „Zero Hunger“ – zu bearbeiten. Die Herausforderung bestand darin, für einen südafrikanischen Landwirt, der weder Einkommen noch Ernährung seiner Familie aufgrund anhaltender Dürre sichern kann, Lösungen zu entwickeln. Als erster Schritt musste das Grundproblem umfassend verstanden, konkretisiert und definiert werden. Danach versetzte sich jedes Teammitglied in den Landwirt, spezielle Techniken unterstützten uns dabei, empathisch zu erspüren, wie der Mann lebt, was er denkt, welche Sorgen er hat. Was sind seine persönlichen Ressourcen…? Das war für mich zunächst schwierig, weil ich keinen Landwirt in Südafrika persönlich kenne, aber zwei Teammitglieder hatten Bauern im Freundeskreis und so haben wir gemeinsam die fiktive Person John erschaffen. Schließlich konnte ich mich richtig mit John identifizieren.

Die Erstellung einer Persona fördert Empathie.
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: Jonathon Rees/Proof Africa

Wie ging es weiter?

Es folgte die Phase des Prototyping. Alle griffen auf unterschiedliche Materialien zu und ließen ihre Hände intuitiv arbeiten, Ideen erzeugen. Eine Frau baute aus Papier einen Komposter zur Herstellung von Naturdünger mit Hilfe von Würmern. Ich selbst bastelte mit Pappe ein Pflanzsystem für Sorten mit geringem Wasserbedarf und ein anderes Teammitglied hat aus Lego einen Schiffscontainer für einen Hühnerstall gebaut, auf dessen Dach eine Solaranlage und Hydrokultur angelegt waren. In der letzten Phase stellten alle Gruppenmitglieder ihre Vorschläge vor und wir verbanden sie mit Wollfäden. Plötzlich sahen wir, dass eine Kooperative, in der die Landwirte gemeinsam arbeiten und Investitionen sowie Materialien teilen, eine Lösung darstellen könnte.

Wie war die Resonanz der Teilnehmenden?

Da meine Kollegin Rebecca Ottmann in Südafrika für uns über Jahre hinweg ein großartiges Netzwerk aufgebaut hat – wir sind seit 2010 mit unserem MINT-Projekt Experimento vor Ort und haben bereits 900 Lehrkräfte erreicht – kannten die Beteiligten uns und hatten Vertrauen. Sie waren alle überrascht, wie viel Freude der Prozess gemacht hat. Wir hatten unglaublich positives Feedback. Alle sahen sofort Einsatzmöglichkeiten für Design Thinking im Unterricht und wenden es teilweise schon an.

Sie glauben also, dass die Arbeitsweise der Designer in den Bildungsbereich passt?

Bildung hat eine zentrale Rolle, um auf die Herausforderungen der Zukunft wie Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung vorzubereiten, aber reine Wissensvermittlung reicht nicht mehr aus. Die Siemens Stiftung legt den Fokus auf hochwertige, naturwissenschaftliche Bildung. Hinzukommend ist es Dr. Barbara Filtzinger, der Leiterin unseres Arbeitsgebietes Bildung, seit langem ein Anliegen, junge Menschen ganzheitlich zu fördern. Kreative Prozesse müssen überall, auch in die MINT-Fächer, integriert werden. So waren wir auf der Suche nach einem Ansatz, der innovatives Denken im Unterricht zulässt und fördert.

Design Thinking liegt im Moment im Trend…

Ja, Design Thinking ist recht populär, wird auch von vielen Unternehmen zur Innovationsfindung eingesetzt. Das hat mich kritisch an die Methode herangehen lassen. Aber sie unterstützt hervorragend die Förderung der „21st Century Skills“ wie Kommunikation, Problemlösungskompetenz, Teamfähigkeit. Als Methode passt sie gut zu unserer Arbeitsweise. Unser Netzwerk erreicht fast eine Million Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Kontinenten, mit Design Thinking können wir strukturiert Kreativität bei jedem Einzelnen fördern. Design Thinking ist kein Allheilmittel, aber eine gute, unterstützende Methode.

Bei welchen Lerninhalten kann Design Thinking konkret im Unterricht angewendet werden?

Im Prinzip eignet sich die Methode für verschiedenste Problemstellungen, besonders für interdisziplinäre Themen wie sie im Projektunterricht behandelt werden. Für einen thematischen Rahmen schlagen wir die „UN Sustainable Development Goals“ mit ihren Zielen aus dem Bereich der ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen vor. Lehrende können entweder den kompletten Prozess des Design Thinking bei diesen fächerübergreifenden Themen einsetzen oder nur einzelne Techniken des Gesamtprozesses zum Beispiel für Rechercheaufgaben oder die Planung von Projekten. Sie müssen also nicht stets den gesamten Prozess durchlaufen.

Beim Prototyping werden konkrete Lösungen entwickelt, die an der Nutzergruppe getestet werden.
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: Jonathon Rees/Proof Africa

Dann passt der Prozess also zu Schule und Lehrplänen?

Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Wünschen steht beim Design Thinking im Mittelpunkt. Mit der Methode soll die im Menschen angelegte Kreativität entfaltet sowie sein Potenzial zu Teamarbeit und produktivem Arbeiten angeregt werden. Die Methode eignet sich sogar besonders gut für die MINT-Fächer: sie bilden mit ihrer interdisziplinären und aktiven Arbeitsweise, aber auch mit der Ausbildung von MINT-eigenen Fähigkeiten wie kritischem Denken, Problemlösungskompetenz und Teamarbeit eine hervorragende Grundlage. Die Beschäftigung mit dem lebenswirklichen Kontext ist ein weiteres Merkmal der naturwissenschaftlich-technischen Fächer, das beim Design Thinking im Mittelpunkt steht.

Welche Rolle haben die Lehrkräfte beim Design Thinking?

Im Design Thinking sind Lehrkräfte Moderatoren und Lernbegleiter; sie führen durch den Prozess, so dass die Kinder selbständig ihren Ideen freien Lauf lassen können. Für sie besteht die Herausforderung darin, sich auf diese alternative Lehrmethode einzulassen, von autoritären Lehrstilen abzulassen. Für den Wandel des Bildungssystems nehmen sie daher eine zentrale Rolle ein. Design Thinking kann nicht Top Down funktionieren.

Was leistet die Siemens Stiftung bei diesem Projekt?

Zunächst setzen wir den initialen Impuls, den MINT-Bereich mit Kreativitätsmethoden zu verknüpfen. Das gibt es bislang noch nicht. Wir werden nun Lehrende in Workshops mit der Design-Thinking-Methode vertraut machen und sie befähigen, diese als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren an ihr Kollegium weiterzugeben. Neben Fortbildungen stellen wir Lehrkräften in unserem Medienportal ein Handbuch zur Verfügung, das Design Thinking mit didaktischen, pädagogischen Werkzeugen angereichert hat und die Lehrerinnen und Lehrer wertvoll unterstützen wird. Wir wollen erreichen, dass es selbstverständlich wird, im Unterricht mit einer kreativen Denkhaltung zu arbeiten.

Teilnehmer des Pilotworkshops in Südafrika.
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: Jonathon Rees/Proof Africa

In welche Länder wollen sie Design Thinking in MINT bringen?

In diesem Jahr starten wir mit dem Pilotprojekt in Südafrika. In den folgenden zwei Jahren werden wir das Projekt unseren Netzwerken in Deutschland und Lateinamerika vorstellen. Wir freuen uns, wenn sich an dem Projekt interessierte Menschen und Organisationen direkt an uns wenden.

Sie kooperieren mit „The Index Project“, einer dänischen NPO. Warum?

Seit 2009 arbeitet The Index Project bereits mit der Methode in der Bildung. Damit begonnen hat die Organisation im Rahmen eines dreijährigen, von der EU geförderten Projektes, innerhalb dessen auch die Materialien für Lehrkräfte entwickelt wurden. Inzwischen hat The Index Project insgesamt 1.000 Lehrkräfte und rund 10.000 Schülerinnen und Schüler in Dänemark, den USA, Chile und Taiwan erreicht.

 

The Index Project ist der Experte für die Methode, die Siemens Stiftung bringt ihr MINT-Wissen sowie ihr großes Netzwerk in den Fokusregionen in Deutschland, Südamerika und Afrika ein. Wir passen gut zusammen, nicht nur, weil wir unterschiedliche Kompetenzen haben, sondern weil wir beide Lösungen für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung anstreben.

Juni 2019

Projektleitung Design Thinking in MINT
Christine Niewöhner

+49 89 540487 119

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