»Eine Forscherin bittet um Hilfe für ihre Weltreise – ein Einstieg, der zündet und jede Begabung herauskitzelt.«

Stefanie Trense, Grundschulpädagogin

Jede einzelne Begabung herauskitzeln

Für die Berliner Grundschulpädagogin Stefanie Trense gehört Inklusion zum Alltag. Mit den differenzierten Materialien für einen inklusiven Experimentalunterricht, die sich Lehrkräfte vom Medienportal der Siemens Stiftung oder vom Berlin Brandenburger Bildungsserver herunterladen können, sorgt sie bei ihren Schülerinnen und Schülern für Begeisterung.

Sie unterrichten an einer Berliner Grundschule Naturwissenschaften in heterogenen Klassen. Was bedeutet das konkret?

Wie in vielen Berliner Schulen gibt es in all unseren Klassen zunehmend mehr Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten „Lernen“ und „Emotionale und soziale Entwicklung“. Auch in meiner Klasse ist die Zusammensetzung sehr heterogen. Zudem hat fast ein Drittel der Kinder Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache.

Inklusion gehört bei Ihnen also zum Alltag. Auf welchen Grundpfeilern beruht nach Ihrer Erfahrung ein guter inklusiver Unterricht?

Alle Schülerinnen und Schüler arbeiten am gleichen Inhalt. Die Lehrkraft muss dabei jedes Kind im Blick haben, begeistern und nach seinen Möglichkeiten fördern und fordern. Auch die begabten und interessierten Kinder sollen im inklusiven Unterricht zu ihrem Recht kommen, indem man ihnen beispielsweise eine „Experten-Aufgabe“ überträgt. Jede einzelne Begabung heraus zu kitzeln und alle Kinder wertschätzend zu behandeln – das ist Inklusion.

Jeder hat eine Aufgabe: Bei allen Aufgaben übernehmen die Ler-nenden Verantwortung für sich und die Gruppe.
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: René Arnold

Das klingt nach einer großen Herausforderung…

Man darf nicht versuchen, aus einer heterogenen Klasse eine homogene Gruppe zu machen. Es geht vielmehr darum, Stärken und Schwächen zu erkennen und jeden Einzelnen entsprechend zu entwickeln. Zugegeben: Das ist nicht immer einfach. Aber wenn sich alle Kinder emotional angesprochen fühlen, dann funktioniert inklusiver Unterricht.

Ein wichtiges didaktisches Hilfsmittel für den inklusiven Unterricht sind differenzierte Unterrichtsmaterialien. Was ist darunter zu verstehen?

Das Besondere ist: Die Materialien sind auf die Potenziale und Bedürfnisse von Kinder mit verschiedenen Lernausgangslagen und Lerntempi abgestimmt. Wir steigen niedrigschwellig ein, zum Beispiel mit einer spannenden Geschichte, um von Beginn an alle Lernenden zu motivieren. Dann erhalten die Schülerinnen und Schüler eine gemeinsame Aufgabe mit gestuften Hilfen und vertiefende Teilaufgaben auf unterschiedlichem Niveau. Dabei arbeiten sie mal in gleich starken und ein anderes Mal in leistungsheterogenen Gruppen zusammen.

Inklusion bedeutet für Stefanie Trense Wertschätzung.
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: René Arnold
Die Potenziale aller Schüler*innen sind dabei entscheidend.
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: René Arnold

Sie haben an der Entwicklung von differenzierten Unterrichtsmaterialien für einen inklusiven Experimentalunterricht mitgewirkt, die sich Lehrkräfte vom Medienportal der Siemens Stiftung bzw. dem Bildungsserver Berlin Brandenburg herunterladen können.

Ja, in einer Gruppe von acht Berliner Pädagogen haben wir Unterrichtsmaterialien für das Fach Naturwissenschaft für die Klassen fünf und sechs zu den Themen „Stoffe im Alltag“ und „Von den Sinnen zum Messen“ entwickelt. Dabei hatte jeder von uns konkrete Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen Stärken und Schwächen vor Augen. Wir haben viel diskutiert und überlegt, was diese an Hilfe und Unterstützung benötigen, um an einem gemeinsamen Lerninhalt zu arbeiten. Diese persönlichen Erfahrungen sind stark in die Entwicklung der Materialien eingeflossen.    

Wie läuft etwa der Unterricht zum Thema „Stoffe“ ab?

Als Einstieg in die Unterrichtsreihe „Stoffeigenschaften – eine Forschungsreise“ erzählen wir den Schülerinnen und Schülern, eine befreundete Meeresforscherin habe die Klasse per E-Mail um Hilfe für ihre Weltreise mit dem Forschungsschiff „Beagle“ gebeten: Ihr seien vor der Abreise einige Gegenstände durcheinandergeraten, die sortiert werden müssten. Dann erhalten die Kinder eine Kiste mit Proben verschiedener Stoffe wie Bindfäden, Draht, Leder, eine Murmel etc., die sie für die Ozeanologin in Gruppenarbeit nach eigenen Kriterien ordnen sollen. Hilfekarten liefern Denkanstöße. Später präsentieren die Kinder ihre Ergebnisse, dafür erhalten sie auch sprachliche Unterstützung.

Sie wenden die Unterrichtsreihe mit großer Überzeugung an. Wie lautet das Erfolgsrezept dieser Materialien?

An die Geschichte zum Einstieg musste ich mich erst gewöhnen, bin dafür inzwischen aber Feuer und Flamme, weil ich sehe, wie das zündet! Die Kinder machen den Unterrichtsstoff dadurch zu ihrer eigenen Sache. Mit einem eigenen Projekt gibt man ihnen Verantwortung. Sie stellen fest: Wir dürfen eigene Ideen entwickeln und umsetzen. So kann man Kinder mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen mitnehmen, begeistern und motivieren.

Sammeln und Kategorisieren: Eine Forscherin bittet um Hilfe
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: René Arnold
Die spannende Geschichte fesselt alle – so wird Lernen zur Team-Arbeit
© Siemens Stiftung, Fotograf*in: René Arnold

Erreichen Sie mit dieser Form des Unterrichts wirklich jedes Kind – auch solche, die sonst eher außen vor sind?

Die Kinder arbeiten tatsächlich alle mit Begeisterung an der gemeinsamen Aufgabe – selbst solche, die vielleicht schon mitten in der Pubertät stecken und sonst wenig Motivation zeigen. Einer meiner schwierigsten Schüler ist sogar eines Mittags krank in der Schule aufgetaucht und sagte: „Wir haben doch heute Naturwissenschaften und müssen bestimmt wieder der Meeresforscherin helfen! Da wollte ich dabei sein.“ Manche Kinder haben der Forscherin sogar geschrieben, dass es ihnen großen Spaß gemacht habe, ihr zu helfen. Da geht mir wirklich das Herz auf!

Haben die differenzierten Unterrichtsmaterialien noch weitere Vorteile?

Der Unterricht ist methodisch abwechslungsreich. Zum einen lernen die Schülerinnen und Schüler naturwissenschaftliche Methoden wie Sammeln, Vergleichen und Kategorisieren kennen. Dann müssen sie experimentieren, die Experimente selbst planen und protokollieren. Hinzu kommt das kooperative Arbeiten beim Erstellen von Plakaten und Präsentationen. Bei all diesen Aufgaben übernehmen die Lernenden Verantwortung für sich und die Gruppe, lernen Kompromissfähigkeit, Teamgeist und Toleranz. So fördern wir beim forschend-entdeckenden Lernen ganz nebenbei wichtige Werte.

Sehen Sie auch Nachteile?

Grundsätzlich funktionieren die Unterrichtsreihen wirklich gut. Und wir decken damit alle Inhalte des Berliner Rahmenlehrplans der fünften Klasse zum Thema „Stoffe“ ab. Für jemanden, der die Materialien zum ersten Mal nutzt, ist der Zeitaufwand für die erstmalige Vorbereitung der Unterrichtseinheit erst einmal groß.

Inwiefern? Im Medienportal der Siemens Stiftung und auf dem Bildungsserver Berlin Brandenburg liegen die Materialien doch als Open Educational Resources (OER) fertig zum Download bereit…

Das stimmt – und dass man sie als OER herunterladen kann, ist ein großer Vorteil. Denn man kann so die Materialien beliebig abändern und individuell an die Bedürfnisse der eigenen Klasse anpassen. Den Hauptteil der Arbeit machen aber das Sammeln der Experimentiermaterialien sowie die Herstellung der gestuften Hilfekarten aus. Während der Lerneinheiten selbst kann ich die Kinder dann bei ihrer Arbeit beobachten, individuell unterstützen und den Unterricht einfach genießen.

Die Materialien zum Download

Sie wollen die inklusiven Experimentiereinheiten im Unterricht einsetzen? In unserem Medienportal finden Sie Pakete zu „Stoffe im Alltag“, „Von den Sinnen zum Messen, „Umwelt„, „Energie“ und „Gesundheit„.

Haben Sie zum Abschluss noch einen persönlichen Tipp für erfolgreichen inklusiven Unterricht?

Für mich ist Inklusion eine Frage der Haltung. Ich gebe einem Kind mit Förderbedarf nicht eine ganz andere Aufgabe, sondern lasse es am selben Thema arbeiten wie die übrigen Schülerinnen und Schüler – nur eben in veränderter Form. Jedes Kind, das sich bemüht, einen Beitrag zu leisten, hat Wertschätzung verdient.

Dann wünschen wir Ihnen viel Erfolg mit Ihren Plänen! Danke für das Gespräch.

Januar 2020

Projektleitung Inklusiver MINT-Unterricht
Ursula Gentili